Der Nahetunnel von Friedrich R. Engelhardt:


Auszug aus Binger Annalen Heft 23 Seite 61 ff :

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Der unterirdische Gang unter der Nahe

Länger als über das letzte Jahrhundert hinaus hat sich die Legende von einem unterirdischen Gang erhalten, den es von einem zum änderen Ufer der Nahe unter der Sohle des Flußes gegeben haben und der insbesondere die Binger Kirche mit dem alten Kloster auf dem Rupertsberg verbunden haben soll.

In der Heimatbeilage der Tageszeitung vom März 1934 hat Hanny FRANKE (1890-1973) in der Spalte "Binger Sagenborn" eine kurze Zusammenstellung sagenhafter Überlieferungen veröffentlicht, die von einem "Gang unter der Nahe" berichteten. Dieser Gang sei um 1880 neu entdeckt worden, nachdem er bereits in früheren Jahren benutzt wurde und insbesondere Schmugglern diente, als die Nahe noch Staatsgrenze zum Königreich Preußen war. In diesem Gang konnte man Stimmen vernehmen, die vom ändern Ufer aus dem dort stehenden Wirtshaus herrühren sollten. FRANKE bezeichnet den Gang als aus der Römerzeit stammend. Da seine Berichtssprache sich "sagenartig" dem "Sagenborn" angepaßt hat, entbehrt leider der Hinweis konkrete Angaben. Vor allem ist bemerkenswert, daß er diesen Gang neben die Drususbrücke verlegt.

Sollte es hier tatsächlich ebenfalls einen solchen unterirdischen Gang gegeben haben, dann wäre des Staunens kein Ende über die Bauwerke, die die römische Zeit in Bingium geleistet hätte.


Ein zweiter unterirdischer Gang

Umso konkreter können wir nunmehr 1983 von einem unterirdischen Gang unter der Nahe berichten, den es tatsächlich gegeben hat, und zwar vom heutigen Kulturzentrum neben der Basilika bis zum gegenüberliegenden Ufer unterhalb der Bingerbrücker Herterbrücke. Legendäre Berichterstattung aus früheren Tagen weiß zu sagen, daß der Gang in den Zeiten des Rupertus-Klosters von den Kloster-Insassen benutzt wurde, was u.and. eine im Gang aufgefundene Glasscheibe aus einem Klosterfenster mit eingeritzter Inschrift verraten habe.

Aus unseren Tagen ließen wir uns von einem alten Binger erzählen, daß sein Vater es um 1914 berichtete, daß dessen Vater es von seinen Vorfahren und alten Leuten mitgeteilt erhalten habe, daß von der Krypta der Pfarrkirche aus der Gang betreten werden konnte. Der unterirdische Gang sei bis um 1850 regelmäßig benutzt worden.

Sehr konkrete und verläßliche Angaben machte uns Frau Ch. aus Bingen, 80 Jahre alt. Sie sei als lOjähriges Kind - etwa um 1910 - zusammen mit anderen Kindern in dem unterirdischen Gang gewesen. Von der Krypta unter der Basilika seien sie weit in dem Gang vorgedrungen, schätzungsweise bis über die Mitte der Flußbreite hinaus. Der Gang habe unbehindert weiter geführt, sie seien aber zurückgegangen zur Krypta.

In Professor Jakob COMO (1878-1945) besitzen wir einen weiteren Zeugen, der als versierter Heimatforscher niemals etwas weiter gab, das nicht beweiskräftig bestätigt werden konnte. Er sagte von diesem Gang, er sei so hoch gewesen, daß ein Mann darin aufrecht gehen konnte. Die Decke war tonnengewölbt und verputzt. Fachleute hätten den Gang immer als römisch angesprochen, er habe in seiner baulichen Beschaffenheit den unterirdischen Stollengängen in der römischen Draisbrunnen-Anlage entsprochen. Später sei der Gang aus Sicherheitsgründen teilweise zugeschüttet und der Zugang vermauert worden.

Soviel zur Vorgeschichte über den unterirdischen Gang, der damit aus der sagenhaften Überlieferung von Legende und Hörensagen heraustritt aus dem Kreis des unbestätigten lokalen Wohlwollens.

Und was aus der Gegenwart (1983) noch besonders prägnant ist: Mehrere Personen, die an den derzeitigen umfangreichen Kanalisations-Arbeiten zwischen Bingen und Bingerbrück beteiligt sind, haben den Gang-Ausgang am Bingerbrücker Ufer gesehen, und ein Berg von steinernen Zeugen wurde bei den Bagger-Arbeiten unter der Sohle der Nahe herausgehoben, die bisher den Gang 2 Meter tief unter dem Naheboden gebildet hatten.


1983

Als die Unterdükerungs-Arbeiten Anfang Juli 1983 begannen, den Nahegrund grabenartig für die Verlegung der Kanalisationsrohre aufzureißen, stieß der Bagger etwa 30 Meter vom Bingerbrücker Ufer entfernt auf große Steine. Es stellte sich heraus, daß der Grab-Bagger einen unterirdischen Gang angeschnitten hatte, der im mäßig schrägen Winkel den rechtwinklig angelegten Dükergraben durchschnitt. Dieser alte Gang lag etwa 2 Meter unter der Sohle der Nahe, war mehr als 2 Meter breit und wurde in einer Entfernung von 30 Metern vom Ufer auf einer Länge von circa 30 Metern entleert. Ob der Gang noch weiter reichte, wurde nicht ermittelt. Dabei wurden zahlreiche weiße und graue Kalkstein- und Kalk-Sandstein-Quader und auch einige flache Platten in verschiedener Größe ausgehoben und ans Binger Ufer transportiert. Zunächst barg man 45 solcher Steine, etwas später sortierte man aus den ausgebaggerten Grundmassen (meist schiefersandhaltig) noch weitere 18 Quader.

Die Quader waren trotz des relativ weichen Kalksteins ohne nennenswerte Verwitterung, namentlich die Relief-Meißelungen waren erstaunlich klar erhalten, auch die eingelassenen Halterungs- und Hebe-Löcher wiesen keine größere Abnutzung auf, die Farbe der Steine war weiß und gelblich geblieben, Reste von ehemaligen Bindemitteln (z.B. Gußmörtel) waren nicht erkennbar.

Wir entnehmen daraus, daß die Steine tief im nicht arbeitenden Erdreich (ohne Bewegung und Verschiebung) eingelagert waren (in einem unterirdischen Gang), sonst wären sie wohl als ehemalige Brückenpfeiler längst vermorscht und klein gescheuert. Die freundlichen Facharbeiter der ausführenden Firma Josef RIEPL aus Regensburg versicherten mir wiederholt, daß die zahlreichen Fundstücke aus einem Gang unter dem Naheboden stammten.

Einige Wochen später - Anfang August 1983 - machten die Arbeiter eine weitere bedeutende Entdeckung. Auf dem linken Nahe-Ufer wurden die Erdarbeiten für die Zwischenpumpanlage durchgeführt, dabei schnitt der Bagger einen unterirdischen Gang im Ufergelände an. Er lag etwa 10 Meter vorn Ufer entfernt tief im Erdreich der Uferböschung, die zur Straße an der Herterbrücke hochführte. Gegenüber dem derzeitigen Wasserspiegel der Nahe lag er etwa l Meter höher. Der Gang war relativ breit, fast 3 Meter. Die Tiefe (Ganghöhe) konnte nicht genau ermittelt werden, da beim Baggern immer wieder Erdreich einfiel - wahrscheinlich war der Gang mannshoch.

Seine Lage war insofern bemerkenswert, als er paralell zur Nahe verlief und sowohl naheaufwärts wie naheabwärts verlief. Etwa in Richtung des unterirdischen Ganges unter der Nahe zweigte ein abwärtsführender Gangteil rechtwinklig ab. Zur Überwindung des Gefälles hatte man Stufen eingebaut. An dieser Abzweigstelle war die Decke durch Steinplatten flach abgedeckt, die auf Eisenschienen lagen. Die anderen Gangteile wiesen tonnengewölbte Decken auf. Die Seitenwände bestanden aus den selben weißen, dicken Kalksteinen, wie sie aus dem unterirdischen Gang unter der Nahe geborgen wurden. Im ganzen machte der unterirdische Ufergang einen sehr soliden und stabilen, sogar sauberen Eindruck.


Schlußfolgerung

Wenn es noch Zweifel an der Existenz des (ehemals sagenhaften) unterirdischen Ganges unter der Nahe gegeben haben sollte, so dürften sie wohl nunmehr ausgeräumt worden sein. Nicht nur, weil mit der Auffindung des Ausgangs am jenseitigen Ufer eine weitere Bestätigung der Ganganlage gefunden wurde, auch vor allem weil das verwendete Baumaterial das gleiche war, das dem unterirdischen Nahegang gedient hatte. Dieses Baumaterial kann also nicht im 4.Jahrhundert Brückenpfeiler gebildet haben. Demnach hat es zu diesem Zeitpunkt keine Kastellbrücke mehr über die Nahe gegeben, wohl aber einen unterirdischen Gang zwischen beiden Binger Kastellen. Der Gang führte leicht im schrägen Winkel von einem zum andern Ufer. Möglicherweise folgten die damaligen Brückenbauer einer Bodenformation unter der Sohle des Naheflußes. Anton WEBER machte mich (1983) darauf aufmerksam, daß der felsige Untergrund von Rhein und Nahe wellenförmige Formung aufweise, die auf vulkanisches Entstehen zurückzuführen sei. In einer solchen schrägverlaufenden Bodenfurche mag der unterirdische Gang angelegt worden sein, was für die damaligen Erdarbeiten eine wesentliche Erleichterung bedeutete.


Zusammenfassung

Nun ist er also neu entdeckt worden, der unterirdische Gang unter dem Nahebett vom einen zum andern Ufer, der in der Erinnerung der Bevölkerung als existent betrachtet, schließlich nebelhaft dem Sagenkreis überantwortet und von wissenschaftlicher Seite ignoriert wurde.

Unsere Betrachtungen haben dazu geführt ihn als Nachfolger einer seit dem Jahr 77 nach Christus bestehenden Steinbrücke anzusehen. Diese Brücke dürfte 355 durch die Zerstörungsarbeit fränkisch/alemannischer Kampfgruppen so nachhaltig eliminiert worden sein, daß aus militärisch-taktischen Gründen ihr Wiederaufbau nicht mehr erfolgte. Stattdessen konzipierte damalige römische Baukunst einen unterirdischen Gang unter der Nahesohle, deren bautechnische Fertigkeit bereits einige Jahrhunderte zuvor bei der Anlage der Wasserleitung unter dem Rochusberg vom Draisbrunnen bis zum Stadtinnern und beim Bau der unterirdischen Abwasserleitung unter den Gassen des altrömischen Bingiums bewiesen worden war.

Der Gang dürfte mehrere Zugänge auf der Binger Seite gehabt haben. Sowohl aus der romanischen Krypta des damaligen römisch -christlichen Heiligtums, wie aus dem römischen Kastell an der Kastellgrenze am Freidhof (ein solcher vermuteter Zugang wurde bei den Bauarbeiten 1973 für das Kulturzentrum aufgedeckt), vielleicht auch direkt aus dem Kastell in Höhe des neu erstellten Kindergartens, (bei dessen Bau 1982 ein schräg nach abwärts führender mannshoher Gang römischer Bauart in Richtung zum unterirdischen Gang entdeckt wurde). Der unterirdische Gang führte vom Binger Ufer (das damals fast bis an die Fluchtlinie der Häuser der Stefan-George-Straße heranreichte) in leicht schräger Richtung bis ans Bingerbrücker Ufer (möglicherweise in einer vulkanisch entstandenen Bodenfurche unter dem Nahegrund). Am andern Ufer ragten steile Felswände (die beim Bahnbau um 1856/1858 weggesprengt wurden) bis in den Flußlauf hinein, sie gehörten zu der später "Rupertsberg" genannten Anhöhe. Neben dieser Felsenhöhe mündete der Gang in das Ufergelände, stieg unterirdisch etwa 10 Meter weit in das Ufergelände hinein unter Benutzung von hochführenden Steinstufen, bis er soviel gewachsenes Erdreich fand, um in paraleller Lage zum Fluß nach rechts und links ausgebaut zu werden. Naheabwärts führte der Gang wohl ins Freie und bot den Anschluß an die Heeresstraße in Richtung Koblenz. Naheaufwärts dürfte der unterirdische Gang bis zur Höhe des (Bingerbrücker) Kastells gereicht haben. Von hier aus soll er noch bis in die Zeiten des Klosters Rupertsberg (1147-1632) benutzt worden sein.

Der unterirdische Gang war etwa 2 Meter breit, ungefähr mannshoch. Der ausführende Gang am anderen Ufer in beide Richtungen naheabwärts und naheaufwärts hatte eine noch größere Breite. Die Seitenwände wurden von hellen Kalk- und Sandstein-Quadern gebildet und wiesen eine ansehnliche Dicke auf. Diese Quader konnten sowohl im Gang unter dem Nahebett wie im Erdreich des Bingerbrücker Ufers festgestellt werden. In der Nahe lagen sie etwa 2 Meter unter der Nahesohle. Es ist so gut wie bewiesen, daß die Bauquader aus dem ehemaligen Mithras-Tempel stammten, der beim Franken-Überfall 355 zerstört wurde. Darauf weisen insbesondere die guterhaltenen Reliefbilder an einigen der Quaderblöcke, die Darstellungen aus dem Mithraskult enthalten. Die Decke des Ganges war tonnengewölbt.

Zur Frage über die Trockenhaltung des unterirdischen Ganges unter der Nahe führte ich mehrere Gespräche mit Wasserbau-Fachleuten. Dabei kam folgende Ansicht zur Darstellung:
Die Quader sind wahrscheinlich durch dicke, undurchlässige Lehmschichten miteinander verbunden und durch Eisenhalterungen zusammengehalten worden, - darauf schließen die eingemeißelten Halterungslöcher in den Quadern. Wenn der fertige Gang sodann außen mit einer dicken Lehmschicht und einer abschließenden Abdeckung überzogen wurde, um schließlich 2 Meter unter der Nahesohle in den Schiefersand des Nahegerölls eingebettet zu werden, dann dürfte ein hoher Grad von Sicherheit erzielt worden sein, daß kein Sickerwasser in den Gang eindringen konnte.


Schlußwort

Für einen engagierten Heimatforscher waren es erregende Tage, auf einmal einem so massiven Komplex römischer Vergangenheit gegenüber zu stehen. Ich bin fast täglich auf Stunden an den Arbeitsstellen gewesen, habe beinahe liebevoll jeden einzelnen Quader untersucht, habe zahlreiche Male mit den beteiligten Personen gesprochen, sowohl mit den Fachleuten der heimischen Ressorts, wie mit den Herren der Bauleitung, sowie immer wieder mit den Facharbeitern der Spezial-Baufirma Josef RIEPL aus Regensburg - jeder Zweifel und jede Einzelfrage wurde nach jeder Möglichkeit hin ventiliert. Bis schließlich sich das Gesamtbild der angenommenen Entstehung und ihrer Vorgänge und Weiterungen soweit festigte, daß ich es hier der Diskussion vorstellen kann.

Dabei habe ich versucht, durch Eruierung und Einbau der geschichtlichen Fakten den Fragenkomplex so umfassend als möglich zu fundieren. Deshalb wurde ausreichend Raum gegeben der historischen Entwicklung. Eingreifende Vorgänge der Binger römischen Geschichte, die bisher meist nur in Randbetrachtungen gestreiften Zusammenhänge mit der Mithras-Religion, Überlieferungen um epochale Ereignisse Bingens, die Fragmente über das Wissen um den sagenhaften Gang, vor allem auch bautechnische Elemente, und dann die Kenntnis um Ausgrabungsfunde aus der lebhaften Bautätigkeit mit ihren tiefgreifenden Erdarbeiten während des letzten Jahrzehnts das alles zusammengefügt und einer dreißigjährigen heimatkundlichen Vorarbeit eingepaßt hat schließlich dazu geführt, dem in einzelnen Bestandteilen im Jahr 1983 ans Licht gekommenen unterirdischen Gang unter der Nahe aus den Jahren nach 355 das Wort zu geben.

Bingen am Rhein, am 8.September 1983

Friedrich Rudolf Engelhardt




Röer

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